Recht im Frühmittelalter – oder wie man in Vachendorf zum Frevler wurde

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Stell dir vor, du wohnst im 8. Jahrhundert in Vachendorf. Du hast einen Apfelbaum im Garten, dein Nachbar einen Ziegenbock, und beide lieben dasselbe Weib. Was tun, wenn’s kracht?

In einer Zeit, in der es noch keine Polizei, keine Gerichte und keinen Rechtsschutzversicherungsvertreter mit Krawatte gab, musste man sich zu helfen wissen. Und siehe da – man hatte ein Rechtssystem! Jawohl, das Frühmittelalter war nicht die gesetzlose Wildnis, als die es oft dargestellt wird. Besonders in Bayern gab es ein ganz eigenes Regelwerk: die Lex Baiuvariorum – das Gesetz der Bajuwaren.

Was war die Lex Baiuvariorum?

Die Lex Baiuvariorum (oder auch „Bajuwarenrecht“) ist eine Sammlung von Rechtsnormen, die im 8. Jahrhundert niedergeschrieben wurde – vermutlich um 741, zur Zeit der Agilolfinger. Sie galt für die bajuwarische Bevölkerung, also für die Menschen in Altbayern – einschließlich Vachendorf.

Wichtig: Es war ein Volksrecht, kein Reichsrecht. Man war also nicht Bürger eines Staates, sondern Angehöriger eines Volkes mit eigener Gesetzgebung.

Die Lex regelte alles Wichtige:

• Erbrecht und Besitzverhältnisse

• Strafsätze bei Körperverletzung oder Totschlag

• Kirchenschutz und Gotteslästerung

• Die Stellung der Frauen (Spoiler: nicht besonders modern)

• Die Rechte von Freien, Halbfreien (sog. Liten) und Unfreien

Wie funktionierte Rechtsprechung damals?

Die gute Nachricht: Es gab keine überfüllten Amtsgerichte.

Die schlechte Nachricht: Man war ziemlich auf sich gestellt.

Rechtsverfahren liefen meist öffentlich ab, etwa auf dem Dingplatz – einer Art Gemeindewiese mit Rechtsspruch. In Vachendorf könnte dieser Platz vielleicht auf dem Georgiberg gelegen haben – dort, wo sich Menschen ohnehin versammelten. Geklagt wurde mündlich, die Beweislage beruhte oft auf Zeugenaussagen, Eide und (man staune) Gottesurteilen.

Wenn du also behauptet hast, dein Nachbar habe deinen Ziegenbock erschlagen, musstest du das entweder schwören oder jemanden finden, der’s gesehen hat.

Was bedeutete das für Vachendorf?

Vachendorf war zur Zeit der Lex Baiuvariorum vermutlich ein kleiner Weiler – vielleicht ein oder zwei Höfe, maximal zehn, die zum Besitz eines örtlichen Adligen gehörten. Der Grundherr hatte nicht nur das wirtschaftliche Sagen, sondern oft auch die niedere Gerichtsbarkeit. Das heißt: Bei kleineren Vergehen wie Diebstahl, Prügeleien oder Ehebruch durfte er selbst entscheiden. Meist gegen ein Bußgeld – das sogenannte Wergeld.

Ein paar Beispiele gefällig?

• Wer einen Freien erschlug, zahlte 200 Solidus.

• Wer einem die Nase abschlug, war mit 6 Solidus dabei.

• Wer den Schleier einer freien Frau herunterriss, musste 3 Solidus blechen – das war ein handfester Angriff auf die Ehre.

Ob es in Vachendorf viele Nasenabschläger gab, ist nicht überliefert. Aber dass Streitigkeiten ums Land, Vieh und Ehen geführt wurden, darf man getrost annehmen. Und sie wurden wohl lokal geregelt – ohne Berufungsinstanzen oder Revisionsverfahren.

Gab es Rechtssicherheit?

Jein.

Das Frühmittelalter kannte kein modernes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit. Aber es gab feste Regeln, klar bezifferte Bußen und einen starken Glauben an die Gültigkeit des Rechts. Wenn du als armer Bauer aber keinen einflussreichen Verwandten oder Lehnsherrn hattest, standst du schnell auf verlorenem Posten.

Und das Schönste: Die Lex Baiuvariorum wurde sogar erweitert – unter Karl dem Großen – und galt noch bis ins Hochmittelalter hinein. Man könnte sagen: Sie war die „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ des bajuwarischen Alltags.

Was heißt das für Vachendorf heute?

Die Lex Baiuvariorum zeigt uns, dass unsere Region schon im Frühmittelalter Teil eines geordneten Rechtsraums war – mit eigenen Normen und Verfahren. Sie beweist, dass selbst in einer Zeit ohne Aktenberge und Juristenwitze der Versuch unternommen wurde, Gerechtigkeit walten zu lassen.

Vielleicht lag der Tingplatz von Vachendorf wirklich am Georgiberg, vielleicht auch am Türlberg und vielleicht stritt man sich dort über Weiderechte und entlaufene Schweine. Vielleicht hat ein Ur-Vachendorfer sogar einmal ein Wergeld für einen umgefallenen Zaun bezahlt. Geld war zu dieser Zeit im Grunde genommen ja nur zum Bemessen von Strafen da und Münzen hatte natürlich kaum jemand, man bezahlte das Wergeld halt in Naturalien im Wert des Solidus.

In jedem Fall gilt: Auch das Dorf hatte ein Recht. Und das ist mehr, als so mancher heutige Steuerflüchtling behaupten kann.