Einzug der Gotik im Chiemgau
Der Chor der Walpurgiskapelle in Seeon als erster Schritt in eine neue Baukunst
Im 14. Jahrhundert geschah in Seeon etwas Außergewöhnliches: Die romanische Walpurgiskapelle wurde umgebaut – und zwar so, dass ein ganz neuer Stil erkennbar wurde, der für die nächsten Jahrhunderte prägend sein sollte: die Gotik. Besonders der neu errichtete Chor zeigt deutlich, wie sich das Bauverständnis veränderte.
Ein neuer Chor mit aufstrebender Form
Der neue Chor war größer als zuvor und viel steiler gebaut – eine Seltenheit für diese Zeit. Statt eines einfachen Gewölbes wurde ein sogenanntes Netzgewölbe eingezogen. Die steinernen Rippen dieses Gewölbes wirken leicht und elegant. Sie ruhen auf eckigen, sauber gearbeiteten Konsolen und verleihen dem Raum ein ganz neues, fast schwebendes Gefühl.
Zum ersten Mal: Pfeiler auch im Innern der Wand
Das Besondere an diesem Chor ist aber nicht nur das Gewölbe, sondern die Art, wie die Wände gestützt wurden. Bisher kannte man es so: Damit das schwere Dach nicht einstürzt, baute man außen an der Kirche Stützpfeiler. In Seeon tauchen nun erstmals auch innen solche Pfeiler auf – direkt in die Chorwand eingebaut. Dadurch wirkt die Wand nicht mehr wie ein dicker Block, sondern bekommt Struktur.
Neue Gliederung durch Blendnischen
Zusätzlich wurden unter den Fenstern kleine, bogenförmige Nischen in die Wand eingelassen – sogenannte Blendnischen. Sie dienen nicht der Stabilität, sondern haben eine rein gestalterische Funktion: Sie unterteilen die Wandfläche, bringen Tiefe ins Mauerwerk und machen den Raum lebendiger.
Die Geburt eines neuen Baustils
Dieses Zusammenspiel von inneren Wandpfeilern und äußeren Nischen nennt man später ein Wandpfeilersystem. Es ist ein wichtiges Merkmal der Gotik. In Seeon taucht es überraschend früh auf. Gleichzeitig zeigt sich am Gewölbe eine weitere Neuerung: Das Gewölbe wirkt nicht mehr wie ein Dach, das einfach oben aufgesetzt ist. Wand und Decke sind nun gestalterisch miteinander verbunden – man spürt: Hier beginnt ein neuer Baustil.
Vorbild Salzburg?
Wahrscheinlich kamen die neuen Ideen aus dem Raum Salzburg oder Laufen. Dort wurde damals schon auf moderne Weise gebaut, und offenbar fanden diese Impulse ihren Weg bis nach Seeon. Wer genau für den Umbau verantwortlich war, wissen wir heute nicht. Klar ist nur: Hier wurde etwas gewagt – und es wurde gut gemacht.
Ein einmaliger Schritt mit großer Wirkung
Zwar blieb der Umbau der Walpurgiskapelle zunächst ein Einzelfall. Doch er zeigt deutlich: Im Chiemgau wurde schon früh mit neuen Formen experimentiert. Der Chor von Seeon ist ein Meilenstein – auch wenn er lange Zeit fast vergessen war.
Der Zustand heute
Als das Bauwerk zuletzt wissenschaftlich beschrieben wurde, war sein Zustand schlecht. Die Kapelle war dringend renovierungsbedürftig. Ob sich daran inzwischen etwas geändert hat, bleibt zu hoffen – denn die Walpurgiskapelle ist nicht nur ein spiritueller Ort, sondern auch ein wertvolles Zeugnis baukünstlerischen Aufbruchs im Chiemgau.