Wie Bayern sich beriet – Synoden unter Tassilo III.

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Wenn wir heute von Landtagen sprechen, denken wir an ein Parlament mit Abgeordneten, Fraktionen und Verfassungsrang. Aber wie hielten es die Bayern vor über 1200 Jahren? Wer entschied, was rechtens war? Und wie wurde das Volk einbezogen? Der Blick in die Zeit des letzten agilolfingischen Herzogs, Tassilo III., gibt darauf eine erstaunliche Antwort.

Versammlungskultur in der Agilolfingerzeit

Im späten 8. Jahrhundert war Bayern ein Stammesherzogtum unter der Herrschaft der Agilolfinger. Herzog Tassilo III., der von 748 bis zu seiner Absetzung durch Karl den Großen im Jahr 788 regierte, führte eine Politik, die stark auf den Ausbau von Klöstern, kirchlicher Ordnung und regionaler Machtsicherung setzte. In diesem Kontext finden sich mehrere Versammlungen bezeugt, die oft mit Klosterstiftungen verbunden waren.

So etwa 769 in Bozen bei der Gründung von Innichen, oder 770 in Aufhausen, wo der Herzog in Anwesenheit von Bischöfen und Priestern stiftete. Weitere solcher Zusammenkünfte sind für Mattsee und Kremsmünster (777) anzunehmen. Diese Ereignisse zeigen: Der Herzog agierte nicht allein, sondern “mit Zustimmung der Großen”. Ob man das schon “Landtage” nennen darf, ist fraglich – sicher aber waren es politische Zusammenkünfte mit geistlich-weltlicher Beteiligung.

Die Synoden von Dingolfing und Neuching

Besonders gut dokumentiert sind zwei Synoden mit gesetzgebendem Charakter:

  • Dingolfing (zwischen 770 und 777)
  • Neuching (771 oder 772)

Hier wurden kirchenrechtliche und weltliche Normen beschlossen. In Dingolfing ging es um Sonntagsheiligung, Gerichtsbarkeit, Erbrecht und die Rolle des Adels. In Neuching wurden u. a. Eigentumsrechte, Ehebruch, Strafen für Leibeigene und der Rechtsstatus Freigelassener geregelt.

Beide Synoden fanden in herzoglichen Pfalzen statt – nicht in Bischofsstädten. Das zeigt: Tassilo war nicht nur weltlicher Fürst, sondern auch gesetzgeberisch aktiv im kirchlichen Raum. Er verabschiedete die “Decreta Tassilonis” gemeinsam mit Bischöfen, Äbten und weltlichen Großen. Man kann diese Treffen also als frühmittelalterliche Konsensversammlungen bezeichnen.

Kein Landtag, aber ein frühmittelalterlicher Vorläufer

Spätere Chronisten wie Johannes Aventinus im 16. Jahrhundert sahen darin die Vorläufer der Landtage, wie sie in ihrer Zeit üblich waren. Aventin sprach von “landschaften” unter Tassilo. Doch aus heutiger Sicht ist klar: Es handelte sich nicht um Ständeversammlungen im modernen Sinn, sondern um flexible Beratungsformen, bei denen die geistliche und weltliche Elite mit dem Herzog über Gesetze, Rechte und Kirchenangelegenheiten verhandelte.

Auch wenn es also keine festen Landtage gab, lässt sich im agilolfingischen Bayern eine eigene Form von Versammlungskultur erkennen. Sie beruhte auf dem Konsens zwischen Herzog, Kirche und Adel – ein politisches System, das ohne Schriftverfassung auskam, aber nicht ohne Gespräch.

Und was hat das mit dem Chiemgau zu tun?

Zwar fand keine dieser Synoden direkt in unserer Gegend statt, doch sie prägten das politische Klima, in dem auch unser Gebiet verwaltet und organisiert wurde. Die Regelungen zu Erbrecht, Gerichtspraxis oder Kirchenorganisation galten auch für die Klöster, Höfe und Siedlungen im Voralpenland. Und die Frage, wer herrscht, wer spricht Recht, wer stiftet Klöster, war auch hier allgegenwärtig. Vielleicht saß ja ein Vasall aus dem Chiemgau mit am Tisch, als Tassilo in Neuching seine Decreta verlas.

Fazit:

Die Versammlungen unter Tassilo III. waren keine Landtage im späteren Sinn, aber auch keine rein kirchlichen Synoden. Sie waren bayerische Mischformen frühmittelalterlicher Politik, mit einem Fürsten, der als Gesetzgeber auftrat, und Großen, die als Konsenspartner mitwirkten. Eine Praxis, die weit über bloße fromme Stiftungen hinausreichte – und viel über die politische Kultur des frühen Bayern verrät.