1. Einleitung
Die mittelalterliche Warmzeit, auch „Medieval Climate Anomaly“ genannt, war eine Phase relativ stabiler, milder Witterung. Im Alpenvorland ermöglichte sie einen beispiellosen wirtschaftlichen, demographischen und kulturellen Aufschwung. Diese Jahrhunderte sind geprägt durch Rodungswellen, Dorfgründungen, Agrarausweitung und infrastrukturelle Erschließung – Entwicklungen, die tief in die heutigen Siedlungsstrukturen hineinreichen.
2. Klimatische Rahmenbedingungen
Zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert zeigen Klimaarchive eine Periode mit:
- höheren Durchschnittstemperaturen (bis zu +1 °C über dem heutigen Mittel)
- längeren Vegetationszeiten
- geringerem Auftreten von Extremwetterlagen
Gletscher zogen sich stark zurück, Almbewirtschaftung wurde bis in große Höhen möglich, und der Getreideanbau dehnte sich in klimatisch zuvor grenzwertige Regionen aus.
3. Auswirkungen auf Siedlung und Landnutzung
Diese günstigen Bedingungen begünstigten:
- intensive Rodungstätigkeit durch Klöster, Adel und freie Bauern
- Entstehung zahlreicher neuer Dörfer, meist als Reihensiedlungen mit Waldhufenflur
- Erweiterung der Almwirtschaft in die Randbereiche der alpinen Zonen
Im Chiemgau lassen sich viele dieser Entwicklungen direkt archäologisch oder urkundlich fassen. Ortsnamen mit -ing, -ham, -hausen oder -reit gehen vielfach auf diese Gründungswellen zurück.
4. Schriftquellen und Urbare
Mit dem klösterlichen Landesausbau entstehen vermehrt schriftliche Aufzeichnungen, z. B.:
- Salbücher und Urbare (z. B. Kloster Seeon, Baumburg, Herrenchiemsee)
- Zehntverzeichnisse mit Angaben zu Getreide- und Viehabgaben
- Frühe Steuerlisten zur Abgabenerfassung
Sie dokumentieren die steigende Produktivität, die neu gegründeten Höfe, die Differenzierung von Besitzgrößen – und damit auch den sozialen Wandel im Zuge des Klimaaufschwungs.
5. Archäologische Hinweise im Chiemgau
Im Raum zwischen Chiemsee, Traun und Alz zeigen sich:
- vermehrte Siedlungsfunde ab dem 10. Jh. (Keramik, Hausgrundrisse)
- Spuren intensiver Bodenbearbeitung auf vormals marginalen Flächen
- Ausweitung der Almgrenzen (Almböden mit mittelalterlichem Kulturbodenprofil)
6. Fazit
Die mittelalterliche Warmzeit war eine Blütezeit für das Alpenvorland. Sie ermöglichte Bevölkerungswachstum, wirtschaftliche Differenzierung und die Ausbildung dörflicher Strukturen, wie wir sie heute noch kennen. Das Klima war der unsichtbare Mitspieler dieses Aufschwungs – bis sich ab der Mitte des 13. Jahrhunderts eine Wende ankündigte.
Literatur und Quellen
- H. Penz: Die mittelalterliche Warmzeit im Alpenraum, Innsbruck 2005.
- G. Endres: Rodungslandschaften im Chiemgau, Rosenheim 2002.
- J. Sirocko (Hg.): Klima und Kulturgeschichte, Stuttgart 2012.
- Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege: Fundberichte und Urbaranalysen
- PAGES 2k Consortium: Global temperature reconstruction (800–1250), 2013.